Glosse in Extra, der Wochenendbeilage der Wiener Zeitung
Das Deutsche kennt Wörter wie unsinnig, leichtsinnig, widersinnig und freisinnig. Aber es kennt kein Gegenstück zum Wort tiefsinnig. Dabei bräuchten wir eines, um die Gedanken zu beschreiben, die einem beim Radfahren durch den Kopf gehen.
Während die Beine ihr Kreiselspiel treiben und die Orte vorüber ziehen, entstehen Gedanken wie Wolkenbilder. Sie sind kurz da, nur um sich gleich wieder aufzulösen. Fragen oder Impulse sind sie. Fragmente. Bin ich durstig? Hungrig? Wie unerträglich schmerzt mein Hintern? Wo geht es weiter? Der Geruch einer feuchten Wiese, die in der Sonne dampft. Hunde, die den Fremden anzeigen. Ein Reh, das die Straße quert. Unheimlich: Die Kirche von Milesov (im böhmischen Mittelgebirge) hinter den beiden mächtigen Kastanienbäumen. Immer wieder: Euphorie, Ärger. „Warum stutzt keiner die Hecke vor dem Hinweisschild?“ „Weshalb überholt mich dieser Autofahrer so respektlos knapp?“ Keine Erörterung findet statt, keine Antworten werden gegeben. Kaum ein Gedanke, der nicht zur Gegenwart gehörte: Melodie einer Filmmusik. Auszug eines Gesprächs mit einem Freund. Erinnerung an eine Frau, die man liebte. Nichts bleibt lange haften. Alles zieht weiter.
Erst wenn das Etappenziel erreicht ist, das Quartier bezogen und der Magen gefüllt, bleibt Zeit für Reflexion. Außer der Schlaf trägt dich sogleich ins Andersland – auch das kommt vor.
Während ich dies schreibe, sitze ich in Teplice, dem Geburtsort meines Großvaters. Ich bin jetzt sechs Tage unterwegs und habe 600 Kilometer zurückgelegt. Am Vorplatz des Schlosses, der immer noch so aussieht wie vor hundert Jahren, stelle mir vor, wie der kleine Fritz und sein Zwillingsbruder auf dem Kopfsteinpflaster spielten. Dann denke ich wieder über das Denken nach.
Der eingangs beschrieben Zustand muss so etwas sein wie eine instinktive Überlebensstrategie aus einer Zeit, in der die Menschen Nomaden waren. Würde der Geist beim Umherziehen einmal dahin wandern und einmal dorthin, kämen wir nirgends unbeschadet an. Beim Erklimmen von Steigungen etwa, wäre Zerstreuung fehl am Platz. Da ziehe ich die Kappe tiefer ins Gesicht, senke den Blick Richtung Oberschenkel und konzentriere mich auf den Rhythmus der Kraft. Treten. Atmen. „Pumpen“, kommandiere ich dazu, „pumpen!“. Bis der Scheitelpunkt erreicht ist, schaue nicht mehr nach vorn.
In der Reise tauschen wir die Flüchtigkeit unserer Gedanken gegen die Flüchtigkeit unserer Verortung. Umherziehen bindet Gedankenkraft, die Überleben sichern muss und sich darin erschöpft. Erst jetzt, in Teplitz, scheint mir, lassen sich die Bilder und Eindrücke der vergangenen Tage ordnen. Morgen geht es dann weiter Richtung Dresden über Krupka und das Erzgebirge. Und wieder hinein in jenen eigentümlichen Sinneszustand, für den das Deutsche kein Wort kennt.