An der Kreuzung Vesterbrogade und Bernstorffsgade springt die Ampel auf Rot. Doch ein Radfahrer schafft es nicht mehr, anzuhalten. Auf seinem bremsenlosen Eingangfahrrad – dem dümmsten Trend seit Erfindung des Segway Stehrollers – jagt er weiter, schleift mit den Füßen am Asphalt, um sein Vehikel zu entschleunigen. Alles vergebens. Quietschend bremsen die Autofahrer. Endlich bekommt der Mann sein Rad unter Kontrolle, biegt links ab und fährt fort, als wäre nichts geschehen.
Was in Wien einen Proteststurm ausgelöst hätte, lässt die Kopenhagener völlig kalt. Kein Hupen, kein Stinkefinger, niemand öffnet das Seitenfenster, um den Mann wüst zu beschimpfen. In der dänischen Hauptstadt haben sich Radfahrer anscheinend einen völlig anderen Status erkämpft. Die Wertschätzung für Drahtesel und deren Fahrer schließt offensichtlich sogar Fehlverhalten mit ein. Immerhin, wissen die Dänen, ist das Fahrrad die perfekte Maschine, konkurrenzlos in Bezug auf Umweltfreundlichkeit, Kosten-Nutzen, Energieeffizienz und Fitnessmehrwert.
Die Kopenhagener Stadtverwaltung hat dies ebenfalls erkannt: Das Radwegenetz ist dicht, sodass keiner auf den Gehsteig auszuweichen braucht. Die Zahl der Stellplätze ist hoch. Die Fahrradwege sind breit genug – bis zu vier Radlern haben nebeneinander Platz, sodass Eltern ihre Kinder und Einkäufe auf dreirädrigen Lastenrädern bequem und sicher durch die Stadt bringen können.
Man muss der Stadt Wien zugestehen, dass auch sie einiges getan hat. Doch selbst, wenn das Radwegenetz ständig erweitert wird, sind die verkehrspolitischen Lösungen immer noch patschert und mitunter gefährlich. Das beginnt bei der mangelhaften Markierung, geht über abenteuerliche Streckenführung bis hin zu klaffenden Lücken im Radwegenetz, etwa entlang der Nussdorfer Straße. Ein offenes Bekenntnis, privaten Autoverkehr zugunsten von Radlern und Flaneuren aus den Innenbezirken zu entfernen, fehlt in Wien.
Als Konsequenz dieser Halbherzigkeit ist der Autofahrer in Wien nach wie vor der unbestrittene Hegemon des öffentlichen Raumes. Was das bedeutet, zeigte sich kürzlich am Nationalfeiertag. Radfahrer, die es wagten, den Ring entlang zu fahren, wurden von Fußgängern, die zwischen Parlament und Universität in Hunderschaften auf den Radwegen promenierten, beschimpft: “Hast keine Haxen!”, “Musst heute mit dem Fahrrad fahren, Depperter!” und ähnliches. In die Empörung mischte sich – so schien es mir – Genugtuung darüber, es den Gehsteigfahrern, Durchschlänglern, Autoverkehrbehinderern endlich heimzahlen zu können.
Auf die Idee, sich mit derselben Präpotenz auf die Ringstraße zu wagen, um auch den Autofahrern ein Stück Öffentlichkeit abzutrotzen, kam allerdings niemand.
“Wiener Zeitung”, Extra; vom Samstag, 07. November 2009